„Faustlos“ im Kindergarten

Als ich letzte Woche unseren Großen aus dem Kindergarten abholen wollte, wurde an einer Wand im ersten Stock, direkt neben dem Büro der Kita-Leitung, gerade ein Poster angebracht. Es war ein riesiges, weißes Papier, auf dem erst einmal nichts stand, außer in Großbuchstaben

„F-A-U-S-T-L-O-S“.

Ich sprach den Erzieher in unserer Gruppe darauf an und erfuhr, dass „Faustlos“ ein Präventionskonzept ist, das Kindern zeigen soll, wie man Auseinandersetzungen gewaltfrei lösen kann. Und in den nächsten Tagen wurde das Poster Stück für Stück mit Inhalt gefüllt, mit Fotos und Erklärungen.

Da ich mich immer für die Themen Kinder-„Erziehung“ (oder auch nicht), Entwicklung von Kindern, Bindung, Eltern-Kind-Beziehung interessiere, war ich neugierig geworden, und begann zu Hause sofort, zum Thema „Faustlos“ zu recherchieren.

Kinder empfinden anders als Erwachsene

Jede Mutter und jeder Vater kann bestätigen, dass sich die Gefühlswelt von Kindern von der Erwachsener unterscheidet. Du hast den Frühstücks-Toast Deines Kindes morgens längs statt quer durchgeschnitten? Dein Kind rastet völlig aus? Das ist für Dich kaum verständlich, aber in Deinem Kind toben Frust, Trauer, Wut, es ist in diesem Moment in einem emotionalen Ausnahmezustand. Denn Kinder empfinden eben anders als Erwachsene.

Das führt auch dazu, dass Eltern häufig nicht verstehen können, wenn ihre Kinder gegenüber anderen Kindern oder ihnen selbst gegenüber Aggressionen zeigen, und beispielsweise hauen, schubsen, kratzen oder beißen.

Kontrolle über Wut und Ärger

Hier soll das „Faustlos“-Programm ansetzen. Es basiert auf dem seit vielen Jahren bewährten US-amerikanischen Programm „Second Step“das vom Committee for Children in Seattle entwickelt wurde und auch vor allem in den skandinavischen Ländern weit verbreitet ist.  Es ist aus Forschungsbefunden und entwicklungspsychologischen Theorien zu den „Defiziten“ aggressiver Kinder abgeleitet. Demnach fehlen aggressiven Kindern Kompetenzen in den Bereichen

  • Empathiefähigkeit
  • Impulskontrolle
  • Umgang mit Ärger und Wut.

Empathie ist die Fähigkeit, die Gefühle anderer wahrzunehmen, zu verstehen und zu beantworten. Empathie ist nicht angeboren oder gar eine geschlechtsspezifische Charaktereigenschaft, sondern kann zum großen Teil erlernt werden.

Impulskontrolle ist die bewusste Kontrolle bzw. Steuerung der eigenen Gefühle und Affekte, wenn sie nicht angebracht sind. Kleine Kinder verfügen noch über wenig Impulskontrolle, lernen diese aber (meist) im Laufe ihres Lebens.

Zuletzt sollen die Kinder einen besseren Umgang mit Ärger und Wut erlernen. Sie sollen die Auslöser von Ärger erkennen und positive Selbst-Verstärkungen und Beruhigungstechniken erlernen.

Bilder, Rollenspiele, Übungen

In dem Kurs werden beispielsweise zur Veranschaulichung Fotokartons eingesetzt, die Kinder in verschiedenen sozialen Situationen zeigen. Außerdem werden (Rollen-)Spiele und Übungen durchgeführt – beispielsweise mit zwei Handpuppen, einem Hund mit Namen Wilder Willi und einer Schnecke mit Namen Ruhiger Schneck. Diese sollen den Kindern helfen, ihre Gefühle und die Gefühle anderer Kinder bewusster wahrzunehmen, sich mit Konfliktsituationen auseinander zu setzen und sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten zu trainieren.

Geübt wird unter anderem, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und die Empfindungen anderer anhand ihrer Mimik oder Körperhaltung zu erkennen. Die Kinder lernen, Konflikte so zu lösen, dass beide Parteien damit leben können. Und sie lernen, sich zu entschuldigen, zu teilen und sich bei Aufgaben abzuwechseln. Um sich selbst wieder auf den Teppich zu holen, kann sich jedes Kind etwas ausdenken: einmal um den Sandkasten laufen, dreimal tief durchatmen, die Augen schließen und bis zehn zählen.

Ein „Faustlos“-Kurs umfasst einen längeren Zeitraum im Kindergarten-Jahr, insgesamt 28 Lektionen (in der Grundschule sind es 51), die in den Kita-Alltag eingebaut werden. Die Inhalte des „Faustlos“-Programms werden von Lehr- und Erziehungskräften vermittelt, die eine entsprechende Fortbildung beim Heidelberger Präventionszentrum durchlaufen haben. Weitere Informationen hierzu bekommst Du im Internet unter www.faustlos.de.

Aggressionen sind eine emotionale Botschaft Deines Kindes!

Wenn Kinder wütend sind, zeigen sie häufig aggressives Verhalten, sie schreien, treten, hauen, beißen, kratzen und können sich nur schwer beruhigen. Das ist normal. Denn dem (kleinen) Kind fehlen in diesen Situationen Handlungsalternativen. Bei Kleinkindern dominiert das emotionale Gehirn noch stark, was sie intuitiv, unbewusst und spontan – das heißt emotional und nicht rational – entscheiden lässt (vgl. Graf/Seide, „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn – Der entspannte Weg durch Trotzphasen“, Seite 25). Und wirklich jeder, der kleine Kinder hat, kennt die Situation, dass es so scheint, als könne man mit Worten überhaupt nicht mehr zum Kind durchdringen. Wenn Kinder von ihren Gefühlen in solchen Situationen regelrecht übermannt werden, übernimmt das emotionale Gehirn die Führung und blockiert das vernünftige, geduldige Gehirn (vgl. ebenfalls Graf/Seide, „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn – Der entspannte Weg durch Trotzphasen“, Seite 25) .

Ich halte es aus diesem Grund für schwierig, dass durch ein wie auch immer geartetes Lehrprogramm „eingeübt“ werden kann, dass das Kind sich selbst in solchen Situationen reguliert. Hier sind vielmehr die Erwachsenen gefordert, dem Kind zu helfen (beispielsweise durch Körperkontakt oder Spiegelung der kindlichen Gefühle) – und es ist nicht Aufgabe der Kinder, selbst „wieder runter zu kommen“. Sie sind dazu schlicht noch gar nicht in der Lage.

Und letztlich senden Kinder mit aggressivem Verhalten gegenüber anderen Kindern oder ihren Eltern die Botschaft „Mir geht es gerade nicht gut“ und „Mit mir stimmt gerade etwas nicht, hilf mir bitte, die Ursache dafür zu finden.“ (vgl. Saalfrank, „Kindheit ohne Strafen“, Seite 100). Es ist unsere Aufgabe, dem Kind zu helfen.

Trotzdem ein hilfreiches Programm

Nichtsdestotrotz finde ich es gut, dass schon kleine Kinder ermutigt werden, sich in andere hineinzuversetzen, auf andere zuzugehen und, dass es für eine Situation verschiedene Blickwinkel gibt. Ab ca. 3 Jahren beginnt sich die Fähigkeit zur Empathie herauszubilden und Kinder lernen, die Perspektive anderer Menschen einzunehmen. Diese Fähigkeit wird in den folgenden Lebensjahren immer weiter verfeinert. Bei diesem Lernprozess kann es durchaus hilfreich sein, dem Kind bei der Entschlüsselung von Gefühlen (Tränen, zornig zusammengezogene Augenbrauen, andere Arten von Mimik und Gestik) anderer zu helfen, beispielsweise im Alltag, mit Bilderbüchern oder eben anhand von Fotokartons und Rollenspielen, wie im „Faustlos“-Programm.

Eine wichtige Herausforderung bei Umsetzung des „Faustlos“-Programms in Kindergärten wird meiner Meinung nach sein, die verschiedenen Entwicklungsstufen der Kinder, die zwischen 3 und 7 Jahre alt sein können, zu berücksichtigen. Hier ist meiner Meinung nach extreme Feinfühligkeit der Erzieher*innen gefordert, auch, weil ohnehin jedes Kind sich in seinem eigenen Tempo entwickelt.

Von den Kindern dürfen hier nicht Reaktionen und Verhaltensweisen abverlangt werden, zu denen sie entwicklungspsychologisch noch gar nicht in der Lage sind. Das würde dem Kind letztlich vermitteln, dass seine Gefühle nicht in Ordnung sind – allerdings sollte unser Ziel letztlich sein, dem Kind zu zeigen, „Du bist OK so wie Du bist“ (das ist, wie ich finde, eine sehr treffende Zusammenfassung, die es auf den Punkt bringt, von Katharina Saalfrank) mit allen – auch den sogenannten negativen – Gefühlen.

Wird in Deinem Kindergarten oder Deiner Grundschule das „Faustlos“-Programm angewendet? Hast Du hiermit bereits Erfahrungen? Oder vielleicht kannst Du ja die Einführung des Programms anregen? Ich freue mich über Deinen Kommentar und Deine Gedanken. Ich bin auf jeden Fall schon sehr gespannt, was mein Sohn mir in der kommenden Zeit über „Faustlos“ berichten wird.

Eure Nadine xx

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Ein Kommentar bei „„Faustlos“ im Kindergarten“

  1. Interessanter Beitrag, da muss man sich viel öfter als man es schon versucht in die Köpfe der Kleinen denken! Danke dafür:) es erinnert mich wieder daran.

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